Zu drei Arbeiten von Bodo Rott


Bodo Rott entführt uns mit seinen Bildern stets in den bizarren Moment einer Art von Wachtraum, in dem das Sehen, wie es sich hinter den Kulissen des normalen Wiedererkennens ereignen kann, zum Greifen nah gespiegelt wird: als Reminiszenz kindlicher Tagträume etwa, oder des Erwachens im Zwielicht des verebbenden Morgentraums, des halluzinierenden Schockmoments plötzlichen Sehens ungreifbarer Dinge. Der Unterschied zwischen Wach- und Traumimagination ist, wie wir heute wissen, ein lediglich prekärer, der zum Großteil am seidenen Faden der An- und Abwesenheit der äußeren Realität hängt. Je stärker diese an Eindeutigkeit verliert, desto mehr wird das projizierende Auge auf sich selbst und seinen Möglichkeitssinn zurückgeworfen. Das Geheimnis eines Bildes hängt immer mit diesem, sehr persönlichen Geheimnis des Sehens zusammen, das der Betrachter leistet, und ist davon nie so zu trennen, wie viele narrative und illustrative Ansätze in der Malerei weiterhin behaupten. Rotts Bildgegenstände sollen in diesem Sinne dämmern, allmählich, und nicht schon a priori da sein. Die Nuancen müssen subtil sein, damit sich das Auge mit ihnen so verbindet, als wären sie Produkte seiner Phantasie. Etwas vom Korsett des Sichtbaren löst sich auf wie ein, im Zusammenstürzen festgefrorenes Gebäudeskelett, als ob die Haltevorrichtung, als die uns das bekannt Sichtbare im Chaos der hereinströmenden Daten dient, ins Rütteln und Stürzen geraten müsse, um dem Besonderen unerwarteten Raum zu geben. Von nichts anderem und noch viel mehr erzählt uns Bodo Rott in seinen Bildern.

Um die Facetten und Ereignisschritte der besonderen Wahrnehmung aufzuschlüsseln rekurriert Rott im Unterschied zu vielen anderen Spätmodernisten des abstrakten Spektrums auf eine sehr eigentümliche Virtuosität im Umgang mit der Klaviatur bildsprachlicher Mittel aus der illusionistischen Malerei. Techniken der Licht- und Schattensetzung, der grafisch erzeugten Perspektive kombiniert er ausgeklügelt und feinteilig mit einer ganz eigenen, aus der Erinnerung gespeisten Ikonographie, mit der er das besondere Sehen neu aufrollen kann. Das Rankegitter etwa, das Rott im Hortus Convulsus des Eichstätter Klostergartens als Feier des Wuchernden erlebt hat, ist eines der zentralen Bildthemen, an denen der Künstler sich immer wieder abarbeitet. Die beiden Bilder Hortus convulsus 3 und 18 (2015 und 2021) spielen auf dieses Rankegitter an: als tatsächliche Haltevorrichtung, die gleichsam vom imaginierenden Auge wie vom Agens wildwachsender Natur überwuchert wurde. Vor uns entfaltet sich ein Reigen segmenthaft herausgelöster, grafisch ausgefüllter Bildelemente, „Kacheln mit holzschnitthafter Binnenzeichnung“, wie er selbst sagt, die zwar noch am Band wiedererkennbarer Dingwelt hängen, sich aber wie selbständig agierende Personen verhalten. Als hätten sie sich aus intensiv erlebten Sehfeldstellen einer einst konsistenten Wirklichkeit weiterentwickelt, um nun zum Betrachter hin wie in einem Theaterraum um Aufmerksamkeit und Vorherrschaft zu kämpfen. Rott bringt sie durch einen geschickt geführten Licht- und Schattenillusionismus an ihren jeweiligen Rändern ins Vibrieren. Wie ein Kartenspiel, das in den Raum geworfen wurde, auf uns zufliegt und plötzlich zitternd in der Luft vor uns hängen bleibt.Das meint der Künstler vielleicht, wenn er von „plastischer Tapete“ oder wucherndem „Linien-Netzwerk“ spricht, das sich aus dem bühnenhaften Landschaftsgrund grafisch nach vorne entfaltet hat, um fast bedrohlich aus dem Bild zu drängen.

Fasten Your Eyeballs (2020) steht nicht nur zeitlich zwischen diesen beiden Hortus convulsus Bildern. Es feiert das Comeback der Nichtkinderkinder, Rotts figurativer Bildelemente, durch die sich die archaisch-kindliche Imagination aufschließt. Einerseits knüpft er damit vor allem an die Buchmalerei der Spätgotik und Frührenaissance an, die ihm immer ein Anliegen und Ausgangsmaterial war, weil sich in ihr jenes unauflösbare Verstricktsein des Auges zeigt: der Illusionismus der europäischen Malerei ist präsent, aber er verweist allerorten auf ein Tatsächliches mit einer nicht-faktischen Ladung, die sich eindeutiger Entzifferung entzieht. Das ist das bildnerische Momentum, das die Betrachteraugen festhält und in eine unaufgelöste, mögliche Erkenntnis einspinnt. Es ist, als ob sich das Auge niemals davon befreien kann. Die Nichtkinderkinder geben so die Hoheit der Entschlüsselung an das Auge und den Geist zurück und wirken ein wenig wie die Rabelais`schen eingefrorenen Worte, die in einer widerständigen Zwischenzone des geistigen Möglichkeitsraumes verharren und sich nur durch die Wärme der persönlichen Anteilnahme und Erinnerung herausschmelzen lassen. So wird auf verschiedenen Ebenen einer Aufbruch verheißenden Malerei der Weg bereitet. Einer Malerei, die die eigenen Archive o?ffnen will, um das Sehen in einen Astronautenflug zu verwandeln.

Andreas Neufert, im Mai 2022

 

 

 


Bodo Rott
Nobodaddy´s Land.

(An Stelle einer Eröffnungsansprache) Von Andreas Neufert

Verehrte Damen und Herren, liebe Besucher*innen der Ausstellung Nobodaddy´s Land von Bodo Rott. Ich gebe zu, der Titel dieser Ausstellung verführt mich dazu anzunehmen, Bodo Rott sähe die Welt mit dem besonderen Blick eines Künstlers, der zu seiner kindhaften Lebensphase nicht unbedingt eine Differenz sondern in vieler Hinsicht eine Kontinuität aufbauen will. Das würde umgekehrt voraussetzen, das kindhafte Sehen, das sich in manchem seines besonderen Potentials über die frühen Erwachsenenjahre durch die künstlerische Aktivität hinwegretten lässt, ginge für die meisten anderen Menschen durch zivilisatorisch auferlegte Zwänge und Ordnungen früher oder später unwiederbringlich verloren.

Nobodaddy´s Land. Man kann den Titel dieser Ausstellung, der auf einen frühen Romantitel Arno Schmidts und gleichsam über diesen Umweg auf ein Gedicht William Blakes zurückgeht, durchaus im größeren Rahmen des Oberbegriffs Nichtkinderkinder, den Bodo Rott an anderer Stelle für eine Bilderserie gewählt hat, in diesen Ansatz einer Betrachtungsweise miteinbeziehen. Obwohl zeitweise von der Bildbühne verschwunden, wie Rott im Interview sagt, feiern die Nichtkinderkinder in den hier gezeigten Bildern wieder fröhliche Urstände als „Grundlage meiner Bilder“. Das verführt mich dazu anzunehmen, die Nichtkinderkinder („Ich nenne sie nicht Kinderkinder“, oder: „Ich nenne sie Nichtkinderkinder“) ließen sich als Allegorien für das besondere Sehen deuten, durch die der Impuls des Kindhaften oder eben nicht mehr kindhaften Kindseins in und durch die Malerei momenthaft auf uns (erwachsene Kinder) überspringen soll.

Verfolgen wir diese Idee etwas eingehender, müssen wir gewagt und beherzt weiter ausholen. Für die Modernisten unter den Malern war der tiefe Wunsch, zu einem kindhaften Sehen zurückzukehren, immer mit der Frage verbunden, was dies ganz konkret für die erwachsene Ordnung des Sehens und damit der Bildmittel bedeuten könnte. Wenn wir hier von einer Neuordnung des Sehens durch die moderne Malerei sprechen wollen, und das ist sie ganz elementar mindestens seit den grenzerweiternden Kunstbewegungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, dann weil uns Bodo Rotts Bilder wieder mitten in die unvollendeten Diskurse um das ursprüngliche Sehen hineinführen, sei damit die als kindlich aufgefasste Neigung zum „archaischen“ Ineinssehen innerer und äußerer Bildimpulse in ihrer ganzen Bandbreite gemeint, oder auch der reife Relativismus (äußeren) Sehens im Analytischen Kubismus: Betrachtende sollen hier über verschiedene Strategien der Zurücknahme des Wiedererkennbaren und den dadurch aufs höchste erregten Wahrnehmungsreiz mit dem Geheimnis des Bildangebots verwoben werden. Diesem „Verstricktsein“ durch teils schwebende, unscharfe Bedeutungsebenen, wie sie die gegen-realistische Bildkunst der Moderne ganz bewusst als Grenze der Wahrnehmung in die Sprache integriert hat, will Bodo Rott, wie er sagt, erneut „Ausdruck verleihen“.

Ein zugegebenermaßen etwas gewagter aber doch zündender Gedanke, der mir beim ersten Begegnen mit Rotts Bildern in dessen Neukölln Studio mit seiner speziellen Lower- Eastside-Athmosphäre einfiel, ist: ordentliche Bilder übertragen keine Wärme, kein Leben; eine Schwachstelle in der Malerei der de Stijl- Puristen war mit Sicherheit, dass hier die Rechnung weitgehend ohne den Wirt gemacht wurde. Der Betrachtende wurde vor dem Gebäude der harten Ecken und Kanten stehengelassen, sozusagen thermodynamisch nicht abgeholt, und daran arbeitet sich Rott noch einmal ab, und zwar mit all den Registern der Malerei, über die er fast traumwandlerisch verfügt, und das auf durchaus brillante Weise (so dachte ich also in prima vista).

Eine kurze Schleife zur Erinnerung sei hier eingefügt: Piet Mondrian traf 1940 in New York auf die jungen amerikanischen Maler*innen, die ihn neugierig umschwärmten und den nüchternen Puristen in die Nächte des Boogie Woogie entführten. Ihm wurde schlagartig klar, dass er malerisch an einem Endpunkt angekommen war (abzulesen vielleicht am besten an seiner spontanen Begeisterung für Jackson Pollock). Fu?r ein paar Jahre flackerte Leben auf, das seine Wärme mikrophysisch immer vom Durcheinanderwirbeln der Atome erhält. Jeder spürt das thermodynamische Geschehen New Yorks sofort auf der eigenen Haut. Die Wärme überträgt sich, während die Kälte bei sich bleibt. Diese Gleichung funktioniert für mich eigentlich immer: Wärme ist nichts anderes als ein In-Bewegung-Geraten der Partikel, und darum versteht sich fast von selbst, warum Bilder, deren besondere Sehfeldstellen, die das Erwachen unseres Interesses steuern, aus dem gewohnten Lot geraten sind, sprich: mit unserem Auge einen Wirbel, eine Bewegung, also einen Raum zwischen uns und der Leinwand aufbauen, einnehmender und wa?rmer wirken, als Bilder, deren Geraden und Flächen starr in der künstlichen Ruhe rektangulärer Ordnung verharren. Natürlich fehlt in dieser Gleichung ein wichtiger Faktor: die Farbe. Ihre Kälte und Wärme wirkt über das generische, emotive Gedächtnis direkt auf die Wahrnehmung. Und doch: um den Nähe-Raum, von dem hier die Rede ist, regelrecht anzufeuern, bewegen einige der Farbfeldmaler (etwa Mark Rothko oder Jean Scully) den Betrachter nicht nur durch die Farbe, sondern auch u?ber die chaotische Auflösung der einst starren Schnittlinien der Felder, deren Reibungsenergie dadurch geradezu entfesselt wird. Das Verrückte ist, dass Maler*innen mit ihrer mühseligen Arbeit an Raum und Zeit ihres, in Form einer Leinwand still vor ihnen stehenden Sehfeldes nicht nur die Scheinordnung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durchdringen und neu arrangieren können. Sie können auch die Grammatik natürlicher Bewegung eigenwillig entordnen und uns schrittweise in immer wärmere, ja heiße Situationen entführen, indem sie die Welt in jeder Hinsicht außer Fokus geraten lassen.

Und hier sind wir bereits inmitten Bodo Rotts entfokussierter Bildwelt, die er für sich und seine Betrachter*innen eingerichtet hat: segmenthafte Sehfeldstellen, „Kacheln mit holzschnitthafter Binnenzeichnung“, wie er selbst sagt, die an ihren Rändern durch einen geschickt geführten Licht- und Schattenillusionismus ins Vibrieren geraten, entwickeln sich in ihr wie ein Kartenspiel, das in den Raum geworfen wurde, auf uns zufliegt und plo?tzlich zitternd in der Luft vor uns ha?ngen bleibt. Das meint der Künstler vielleicht, wenn er von „plastischer Tapete“ oder wucherndem „Linien-Netzwerk“ spricht, das sich aus dem bühnenhaften Landschaftsgrund grafisch nach vorne entfaltet hat, um fast bedrohlich aus dem Bild zu drängen. Die Bilder produzieren so einen eigenen heißen Raum, in dem durch die einzelnen Segmente und ihre Stellung im Spiel von Licht und Schatten eine in sich eigene Dynamik von Vorder- und Hintergründen entsteht, als würde der durch eine Welt aus aneinander stoßenden Objekten wandernde Kinderblick selbst objektiviert, d.h. in seiner schnell wechselnden Beweglichkeit von Persönlichkeit zu Persönlichkeit (und nichts anderes sind alle Objekte für Kinder) zum zeitlich erlebbaren Bild.

Das Spannende an der Auseinandersetzung mit Bildern ist ja, dass sie uns nahe sind oder nahe kommen können, d.h. die zeitliche Empfindung des „Jetzt“ der Präsenz, der nur für Nähe und in der Nähe Geltung hat, ist dort ausgedehnter möglich, als selbst mit Menschen, denen wir uns nahe fühlen. Bilder zwingen uns zur Einhalt, sie sind still, sie frieren den Moment ein, weil sie selbst einen eingefrorenen Moment vermitteln. Das liegt in der Natur des Bildes und ist eine enorme Chance, eine Mo?glichkeit, die sonst keine Kunstgattung in sich trägt: dass ein besonderer Moment im Bild mit einem besonderen Moment in uns, den Betrachtenden, korrespondiert, was tatsächlich auch die Voraussetzung für die Empfindung des „Jetzt“, mithin also der verfließenden Zeit ist (seit Einstein und Boltzmann wissen wir, dass es, je größer die Entfernung, desto weniger möglich ist, von einem gleichen Jetzt an unterschiedlichen Orten zu sprechen). „Unser Jetzt reicht nicht über das ganze Universum“, sagt der Quantenphysiker Carlo Rovelli, „es ist wie eine Blase in unserer Nähe.“ Und das moderne Bild ist spätestens seit dem Kubismus eine Zusammenstellung oder ein Wirken von Ereignissen, die weder vergangen noch zukünftig sind, aber doch das Zeug dazu haben, mittels ihrer Unschärfe und Fremdheit den Archivkasten unserer noch nicht realisierten Welterfahrung aufzuschließen. Alle modernen Bildsprachen, die (wie z.B. der Suprematismus) auf ein universelles „Jetzt“ des Universums zielten (oder eine zeitlose Vierte Dimension), haben zwar die sprachlichen Möglichkeiten der Malerei erweitert, inhaltlich gingen sie aber sprichwörtlich ins Leere, da es so etwas wie ein universelles „Jetzt“ ebensowenig geben kann, wie eine Vierte Dimension, die mittels eines Bildes erlebbar wäre.

Vielleicht noch eines: Bodo Rotts Rankgitter, die er irgendwann einmal im Hortus Convulsus des Eichstätter Klostergartens als Feier des Wuchernden und miteinander verschränkten in einer Zeitgleiche aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erlebt hat, und nun immer wieder aufs neue in immer neue Bilder überträgt und weiterentwickelt, lassen den Begriff von Landschaft, den jeder von uns mitbringt, zu dem werden, was Landschaft in Wirklichkeit ist: eine vielgesichtige Räumlichkeit, die sich als Gegenüber entzieht und sich nur in der Teilnahme erschließen lässt. Ich wünsche Ihnen viel Freude und Inspiration bei der Betrachtung, und vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

 

 

 Andreas S. Neufert, April 2021

 

 

 

Catalogue Bodo Rott Hortus Convulsus

A new publication ia available about the artist´s work covering the period since 2015.

It contains 44 pages in color and a wonderful introduction by Marc Wellmann to the new body of paintings called Hortus Convulsus.

The can be ordered via email to mail(at)bodorott.de or in a bookshop. The ISBN is 978-3-00-056724-7.

Price: 10,- € + 3,-for distribution in Germany.

Marc Wellmann

In the Painter’s Jungle

Let’s start with the title of the exhibition and this, the accompanying catalog with which the artist lures us into his conceptual world. Translated, hortus convulsus means “twisted garden,” where the underlying verb convellere can also mean “to stir up,” “to break up,” “to shake to the core,” “to undermine,” “to tear asunder,” “to sprain,” or “to wrench apart.” The last one applies especially to torture. Medicine talks of convulsions as shaking spasms that might occur when a patient is suffering from a high fever or epilepsy. But Bodo Rott’s choice of title is not just meant to show off his humanistic education. Previous project titles such as “Mischlicht( Mixed Light)” (2007), “Jungfrauenmilch (Virgins Milk)” (2011) and “Unreine Reime (Uneven Rhymes)” (2015) were also attempts at puns. The pun on hortus conclusus, a particular way of depicting the Virgin Mary that was most popular in the 14th and 15th centuries, requires a brief explanation. Showing Madonna with child in a walled or fenced garden, where often angels or even other mythical creatures reside, goes back to a Christian interpretation of the Song of Songs, which says: “A garden inclosed is my sister, my spouse; a spring shut up, a fountain sealed” (4:12 KJV). In the church’s interpretation, the roses, white lilies, lilies of the valley, and violets growing as symbols of purity, chastity, and the Virgin Birth in Mary’s garden are interpreted as symbolic of the church. But the mystical transformation of Virgin Mary on a rather explicitly erotic Old Testament text can also be understood as a kind of late-medieval sexual instruction. The flowering garden is nothing more than a fertility symbol and represents the childbearing role of the female sex, while the wall or enclosure might be considered symbolic of the hymen.

Hortus Convulsus is the overarching concept selected by Bodo Rott for his new series of works characterized primarily by the use of ornamental structures. Some of these works were already shown under this title in Munich and Berlin in 2016. The title closely reflects the compositional density of these pieces which Rott himself has described half-jokingly as “plastic wallpaper.” Nothing stands still, all of the elements are moving in earthy, swelling waves, and even jump out off the surface thanks to various illusionistic techniques, a web of fragments that seem to have been drawn then interwoven with each other like snippets of paper. In this way, Bodo Rott’s “twisted gardens” are reminiscent of the all-over paintings of the 1950s and 1960s, but unlike Jackson Pollock’s Drippings, for example, where the viewer is always left with the feeling that only a part of the structure made it onto the canvas, Bodo Rott’s compositions are quite aligned to the outer edges of the image. The fringing of the backdrop color along the edges marks an aesthetic boundary between reality and fiction, between the material and its elaboration, between darkness and light. For this reason, Rott’s “garden scenes” are not really comparable to wallpaper patterns which are based on the potentially infinite repeatability of individual motifs.

The structure of the motifs within Rott’s gardens is quite closely and precisely structured within the borders of the canvas. The individual “snippets” are separated from one another by clear outlines and color contrasts. Mutual overlapping is rare. Rather, the motifs are pressed together and even misshapen to find space. It is sometimes difficult to recognize the fauna amidst the jungle. Only upon closer inspection a parrot or a anamorphotically distorted fox or beetle will suddenly appear. Sometimes a drink can or an astronaut pops up. Bodo Rott’s visual world also always has a humorous side.

The artist’s practice is undergirded with accurate knowledge of and familiarity with art history. His “twisted gardens” are essentially based on scientific illustrations from the Renaissance and thus come from an epistemology where there were no sharp dividing lines between the factual, the whimsical, and the fantastic. Such motifs which at first glance look like post-it notes drawn upon with colored pencils and then glued onto the oil paintings were already seen in Rott’s works from 2014 as in Als wirallenochheirateten (Whenweallusedtogetmarried) and Flowers dream aufrecht, Kinder too (Flowers dream upright, Children too). From there, the vegetation began to grow into the image space, first in “dialog” with the children as equal composition elements in works like Firmling (Confirmand) and Nectar from 2015. It then took on a life of its own in In die feuchten Wälder gehen (Entering the moist forests), also from 2015.

After about ten years where the children claimed central roles in Bodo Rott’s work, without having asked, as he once described it, they have moved now to the edge. At the center of In die feuchten Wälder gehen (Entering the moist forests), there’s still what looks like outline of a child’s figure, but now left empty. They remain the protagonists of his monotypes, but instead of their almost ubiquitous presence in Rott’s works of the last decade, they are now partially hidden in the bushes, as in 2017’s In the Woods. The children were the vanishing point which had held Rott’s anarchic pictorial world together. The simultaneity of his figurative creation with gestural, impasto abstraction and roguish dissolution of sensory contexts appear absolutely compulsive and logical with the presence of children. They function as a kind of medium between order and chaos, between body and spirit, between form and color, and for a quite banal reason: being messy, jumbled, awkward, or naive is symptomatic of childhood. As was already the case with Giovanni Francesco Caroto’s Boy with a Drawing from ca. 1515, the different style registers become credible because a child is present. Children’s drawings, after all, stand outside aesthetic categories. One looks at Bodo Rott’s images with children through their eyes, thus effectively mediating between the presentation and the manner of representation.

With regard to this new series, Bodo Rott has spoken of a terra incognita still requiring further exploration. In doing so, he has deliberately renounced the wisdom of the little ones who have accompanied him heretofore on his odd visual adventures. The “twisted gardens” emerge abruptly, in direct exchange between the painting’s surface and painter. They sprawl. He has to improvise. Their rhythmic musicality is not unlike jazz. For the eyes of those wandering through this jungle of convulsive individual motifs, surprising discoveries can be made. They are, in this sense, places that will bear both visual and spiritual fruit.

Marc Wellmann, 2017











Interview erschienen in Kunst und Kirche 03/2017

Luther 2017
Pamphletdruck zum Wenden
70 x 25 cm
Siebdruck

Interview von Kunst und Kirche mit Bodo Rott

MS Warum produziert ein Künstler heute eine Grafik auf Luther und die Reformation im Stile propagandistischer Darstellungen des 16. Jahrhunderts?

BR Auslöser war schon das Reformationsjubiläum und die damit verbundene, zunehmende Auseinandersetzung mit der Person Luthers. Das Konträre und Schroffe an der Reformationszeit hat mich schon lange ebenso interessiert wie deren künstlerische Ausprägungen. Für die einen war Luther ja ein großer Reformator, für die anderen so etwas wie ein Teufel – zumindest wenn man den damals verbreiteten Pamphletholzschnitten glaubt. Und im Gegenzug hat man den Papst dann auch als Teufel und Antichrist dargestellt. Das sind schon sehr deftige Formulierungen. Und ich wollte eben heute eine Grafik machen, die auf diese Auseinandersetzung anspielt, aber beide Positionen in einem Bild vereint. Wenn man das Blatt dreht, so sieht man die eine oder die andere Interpretation.

MS Ist deine Grafik nicht ein Schlag ins Gesicht der ökumenischen Bestrebungen, etwa beim Kirchentag und dem Reformationsgedenken im Jahr 2017?

BR (lacht) Warum? Findest Du?

MS Ja. Weil Du ja schon auf eine Kontroverse und Heftigkeit anspielst, die man heute kaum mehr findet. Wenn sich etwa Papst Franziskus mit den Oberhäuptern des deutschen Protestantismus im Vatikan trifft, wird doch das gepflegte Gespräch geradezu demonstrativ gesucht.

BR So ein gewisses Maß an Zweifel an eigenen Positionen und Toleranz gegenüber anderen Auffassungen hat im 16. Jahrhundert sicherlich gefehlt. Da gab es scheinbar eher eine Verpflichtung zur Gewissheit im eigenen Glauben. Und eine Lust an oder Verpflichtung zur Auseinandersetzung.

MS Und ist Deine Grafik dann nicht eigentlich eine Rückkehr zur Frontstellung im Christentum, die im 21. Jahrhundert überwunden scheint?

BR Ich könnte das im Blick auf Luther für mich nicht anders formulieren, wenn ich überlege, was ich für Bilder im Kopf habe. Dieses unheimlich gespaltene Bild ist für mich das besonders Auffällige an der Lutherzeit.

MS Du hast Luther als Mönch dargestellt und berufst Dich dabei offensichtlich auf Vorbilder der frühen Cranachgrafik. Wenn auch nicht im Sinne einer direkten Übernahme, so doch für den Abgleich mit Luthers Physiognomie. Das Besondere ist hier ja, dass es ein markant-jugendlicher Luther ist und nicht der vollendete, gereifte und gewichtige Mann, wie er ja häufiger gezeigt wird. Dein Luther hätte auch gut in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden sein können.

BR Es ist keine Kopie nach Cranach, auch wenn ich die Anmutung des Holzschnitts in meinen Siebdruck bewusst übernommen habe. Aber er hat auch etwas expressiv Überzeichnetes. Eine sehr fleischige Figurenauffassung, bei der man natürlich merkt und merken soll, dass es keine Darstellung aus der Lutherzeit ist. Ich habe eine Cranachzeichnung als Richtschnur benutzt, auf der Luther sehr brutal aussah. Mit einem massiven Schädel - wie ein Stein.

MS Das ist ja auch ein Topos der viel mit Luther in Verbindung gebracht wurde: der fest für seinen Willen und Glauben einsteht und nicht wankt und weicht. Der Kämpfer, der polarisierte und von dem man sich heute manchmal wünschen würde, dass er weicher und toleranter gewesen wäre.

BR Klar gab es da bei Luther dunkle Seiten, da war er offenbar enttäuscht.

MS Was bedeutet das Vexierbild für Dich? Gibt es dafür direkte Vorbilder?

BR Die „Kippbilder“, wie etwa bei Arcimboldo, wurden meines Wissens damals nicht auf religiöse Themen angewendet. Aber es gab viel kontroverse Bildpropaganda. Auch sind viele gestalterische Details bei mir anders. So etwa der Schwung der da drin ist. Aber ich wollte die grafische Fülle der Zeit für meine Arbeit aufgreifen.

MS Jetzt zu Maria. Gegen die hatte Luther ja im Sinne der Mutter Gottes eigentlich nichts.

BR Maria hatte aber nach Luther nicht mehr die Stellung wie im alten Glauben. Und gerade die Funktion der segnenden und fürsprechenden Heiligen hat sie ja für die Protestanten eingebüßt. Und daher übernimmt bei mir Luther das Christuskind von Maria.

MS Ein Bild, das man ja ikonografisch eigentlich nicht mit Luther verbindet. Eher mit dem hl. Antonius von Padua …

BR Und wenn man die Maria ansieht, die in der umgekehrten Tiara Schutz findet, dann bewahrt diese Darstellung das alte Bild von ihr. Zugleich sieht das aus wie ein Höllenrachen. Motive aus der vorlutherischen Glaubenspraxis, die im Sinne der Gegenreformation die Protestanten darstellen könnten. Der Protestantismus war ja eine Bedrohung für die, die an ihrem alten Glauben festhalten wollten, von daher ist hier die Bedrohung ganz drastisch dargestellt, der Christus besänftigend entgegenwirkt, indem er sich den Flammen zuneigt, um sie zu löschen.

MS Warum spielt in deiner Kunst das 16. Jahrhundert generell eine so große Rolle?

BR Weil in dieser Zeit die Malerei erfunden wurde, wie wir sie heute glauben. Die große Leistung der Renaissance war die Darstellung von Perspektive und Raum. Mit der Möglichkeit zur räumlichen Illusion beginnt auch das Spiel damit. Die Suggestion und die Dekonstruktion von Realität. Es geht mir um die Reflexion des Lebens und der Kunst in dieser Zeit. Die Auffassung von Menschlichkeit, die in dieser Zeit formuliert und auch wieder zerstört wurde.

MS Die Renaissance war ja auch eine Zeit mit deutlichen Widersprüchen. Interessieren diese Dich besonders?

BR Das waren ja damals sehr mutige Menschen, die weit über ihre Vorurteile hinaus gegangen sind. Dahin, wo man sich nicht mehr auf viel verlassen konnte. Und auch in der Malerei gab es sehr viele Experimente, während die Künstler im Barock später genau wussten was sie wollten – so dass die Kunst eben darum etwas langweilig und berechenbar wurde. KünstlerInnen der Renaissance waren einfach wahnsinnig mutig. (...)

MS War Luther auch mutig?

BR Ja. Sicherlich war er mutig. Er ist ja bei seiner Auffassung geblieben, hat ja einfach nicht aufgehört zu argumentieren – gegen alle Widerstände. Aber er hatte natürlich auch den sächsischen Kurfürsten und wichtige Institutionen hinter sich…

MS Was seinen persönlichen Mut aber nicht einschränkt. Weil er es ja ganz und gar nicht für selbstverständlich erachtet hat, dass es für ihn persönlich gut ausgeht.

BR Ich glaube, dass der Mut nicht damit anfängt, dass man bei etwas bleibt, sondern dass man anfängt zu denken und ein neues System ersinnt. Und das verbindet Luther für mich mit anderen Denkern: Von den Alchemisten bis hin zur Aufklärung.

MS Nun zu Luther und Dir: Die Gretchenfrage: Bist Du religiös?

BR Ich glaube schon. Auch wenn ich nicht getauft wurde. Ich bin als Tier geboren worden. Wie alle. Und dann als Heide erzogen worden. Aber mich interessiert das Religiöse sehr. Ich sehe auch, dass Religion ein wichtiger Teil vom menschlichen Leben ist. Otl Aicher hat mal geschrieben, wenn in der Natur nichts ohne Ursache passiert, geschieht im menschlichen Leben nichts ohne Projektion. Ich glaube schon, dass man, um handeln zu können - oder um eine Vorstellung zu gewinnen, Wertsetzungen treffen muss und daher Projektionen braucht. Und das ist auch eine religiöse Form. Also: Ich stelle mir schon solche Fragen.

MS Die durch das Lutherjahr ausgelöste Motivation hast Du schon erwähnt: Aber was genau sollte Dein Beitrag zu Luther sein? Ich kenne viele KünstlerInnen, die sich in ihrem Werk momentan keine religiösen Fragen stellen und für die Luther auch kein Thema wäre. Warum ist das bei dir anders?

BR Ich glaube, dass gerade weil ich keiner der christlichen Konfessionen angehöre, mich das Thema besonders beschäftigt. Für mich ist es immer noch offen, wie man Luther bewerten soll. Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen. Aber die Reformationszeit ist für mich schon eine besondere Epoche und Luther war in dieser Zeit für die Kunst- und Philosophiegeschichte eine sehr große und bedeutsame Figur. Allerdings habe ich auch nicht so ein großes historisches und theologisches Wissen. Meine Grafik entstand aus dem Versuch heraus, mich in die Zeit und die damaligen religiösen Konflikte einzuleben. Gerade indem ich keine festen Standpunkt in der Auseinandersetzung zwischen den Konfessionen einzunehmen versucht habe.

MS Soweit ich das verstanden habe, hast Du in Deiner Interpretation bewusst nicht auf die prägenden Lutherbilder des 19. Jahrhunderts zurückgegriffen. Du hast versucht, eine autonome, fast schon psychologisierende und dennoch historisch komplexe Interpretation von Luther und den konfessionellen Auseinandersetzungen zu finden?

BR Ja, da war ich etwas frech. Ich würde aber nicht ganz ohne Quellen ein eigenes Lutherbild gestalten wollen. So etwas rein Expressionistisches hat mich nicht interessiert. Mehr der Versuch, sich in die zwei unterschiedlichen, fiktiven Pamphletisten einzudenken, die für meine beiden Interpretationen verantwortlich gewesen sein könnten. Person und Zeit auch äußerlich zu erfassen, fand ich interessant. Das 19. Jahrhundert, etwa das Lutherdenkmal vor der Berliner Marienkirche, ist mir da zu leblos. Ich finde diese Zeit in anderen Bereichen spannend, auch da gab es gewaltige Umbrüche.

MS Du hast gesagt, dass Du eine Distanz zu Luther und der Kirche hast. Aber auch ein großes Interesse. Also bist Du kein Propagandist, der Luther in einer besonderen Form darstellen will?

BR Das Kind auf Luthers Arm ist neu. Der Luther sehr zugewandte Christusknabe definiert den Reformator ganz anders, auf eine empathische Art und Weise. Aber Luther sieht das Kind vielleicht gar nicht, die Kontaktaufnahme geht vom Kind aus. Ich fand die Cranachzeichnung einfach auch sehr erschreckend weil er so grob aussieht – fast wie ein wüster Mensch. Mich interessierte der Blick in die Ferne, das Unnahbare. Hat sich Luther dem gestellt, was auf ihn zukam?

Auch das bedrohliche Element, das „Papstmonster“ wird von beiden nicht beachtet, es ist in dieser Interpretation zu schwach um zu wirken. Der Papst ist zwar gefährlich gestaltet als Wilder Mann, Satan und mit Eselsohren und Kotkrone (einem Motiv von Cranach) ausgezeichnet. Er ist also gefährlich, böse und dumm. Aber das in einer so übertriebenen Art, dass er das Bedrohliche schon wieder einbüßt. Und wenn man das Blatt dreht, dann sind auch die protestantischen „Dämonen“, die Maria und Christus bedrohen, letztendlich wirkungslos.

MS Eine Abschlussfrage: Was kennzeichnet Deine Grafik als Kunstwerk der Gegenwart?

BR Ich glaube dass mein Werk – und zwar das gesamte Werk – dem 21. Jahrhundert angehört, Es gibt keine alles bestimmenden Strömungen mehr, die für sich beanspruchen, die Wahrheit zu kennen. Das war im 20. Jahrhundert anders, als etwa die Moderne mit ihrer normativen Ästhetik prägend war. Und man dachte dann einfach, diese Norm gelte für immer. Heute gibt es nicht mehr viele KünstlerInnen, die noch an so etwas glauben. Die Kunst geht formal und inhaltlich in ganz viele unterschiedliche Richtungen. Natürlich wird dabei immer noch sehr gute Kunst gemacht. Man kann aber in jeder Richtung arbeiten. Ich glaube, dass die Kunst, die im 21. Jahrhundert entsteht, immer auch die Kritik an ihrem eigenen Werk mit hineinpackt. Und das gab es vorher nicht – höchstens in der Kunst der Reformationszeit also in der Renaissance.

Das Gespräch führte Dr. Martin Steffens mit dem Künstler

Katalog HORTUS CONVULSUS zur Ausstellung Durch´s innere Unterholz /Hortus Convulsus

Anlässlich der Ausstellung Durch´s innere Unterholz /Hortus Convulsus im Kunstverein Hof wird ein neuer Katalog aufgelegt, der die Arbeiten seit Ende 2015 bis 2017 dokumentiert.

Der Band BODO ROTT Hortus Convulsus erscheint mit einem Vorwort von Marc Wellmann ( Im Malerdschungel), ist broschiert und umfasst 48 Seiten in Farbe. Preis 10,- €

Es gibt eine Vorzugsausgabe von 20 Exemplaren, Sie enthält je eine Monotypie von Bodo Rott. Preis: 120 ,- €

Der Katalog kann unter mail(at)bodorott.de oder im Handel unter der ISBN 978-3-00-056724-7 bestellt werden.

Heike Welzel-Philipp

Bodo Rott /HORTUS CONVULSUS

Zum Teufel mit unseren bisherigen Vorstellungen von gemalter Landschaft. Hinaus aus dem Hortus conclusus, dem ummauerten Paradiesgärtlein, und hinein in den Hortus Convulsus, in den verzerrten Garten. So lautet der Titel und das Credo von Bodo Rotts neuer Bilderserie, die eine enorme Vitalität und kreative Ausgelassenheit versprüht.

Entstanden sind turbulent überbordende Kompositionen, in denen es an allen Ecken und Enden sprießt, treibt, wächst, wuchert und wundersam gedeiht. Aus tausenderlei Details, aus der massenweisen Vermehrung von unzähligen Kleinformen, so wie auch die Natur Molekül an Molekül reiht, immer vom Einzelnen zum Gesamten her, ist ein malerisches Dickicht entstanden. Ohne Zentrum und Gewichtung ist alles neben-, in- und übereinander zu einem filigranen Ornament verwoben, dem jedoch die Oberflächlichkeit des Dekorativen entzogen ist.

Rotts puzzliges Patchwork durchzuckt nämlich ein phantasmagorisches Pulsieren. Wie bei der Anamorphose oder bei Vexierbildern schälen sich plötzlich figurative Elemente aus dem abstrakten Farbbiotop heraus. Paritätische Einzelformen, unterschiedlich in Größe und Farbwert, aber allesamt in einer Art Membran oder Blase eingekapselt, treten hervor und ringen um Aufmerksamkeit. Sie können als perspektivisch verzerrte Objekte, Pflanzen und Tiere identifiziert werden: wie z. B. der Eisvogel oder Fabelwesen, wie das Einhorn. Vieles davon ist durch Bilder aus alten naturwissenschaftlichen Büchern inspiriert worden.

Für den Zusammenhalt dieser geleeartigen Masse von stempelartigen Einzelmotiven sind das famose Wechselspiel von Binnenzeichnung und Umrissformen sowie farbig durchgearbeitete Schlagschatten verantwortlich. Liniare Strukturen gehen dabei vollends in wundervoll nuancierte Farbenteppiche mit räumlicher Tiefenwirkung auf. Die in der figurativen Kunst meist zu einer Kulisse verkümmerten Landschaft wird hier, und das ist Rotts Idee, zu einer Art "plastischen Tapete" mit fast haptischen Qualitäten.

Rott, der 1971 in Ingolstadt geboren wurde, in Nürnberg und an der HdK Berlin studierte, liebt diese Art von "Schwindel" in der Malerei: das Spiel mit perspektivischen Verzerrungen und Scheinillusionen - das Trompe-l'oeil. Er kennt die Traditionen, setzt sich in ihren süffigen Saft, quetscht sie aus und schickt das Betrachter-Auge hinaus in die verwirrende Wildnis seines Gartenraums.

Zwischen diesen knisternden Spannungsfeldern von Wirklichkeit und Illusion, von Wahrheit und Vision, von Schein und Sein oszillieren auch Rotts markante Figurenbilder. Seine Personage: durchweg diese kindlich charismatischen Gestalten, "immer am Rande der Geschlechtlichkeit", mit ihren merkwürdig anmutenden und seltsam wissenden Erwachsenengesichtern, in denen sich das Kaleidoskop menschlicher Befindlichkeiten, sämtliche Eigen- und Unarten widerspiegeln: Aggressivität, Angst, Bösartigkeit, Einsamkeit, Erotik, Unschuld. Dies alles und noch viel mehr verkörpern Rotts "Nichtkinderkinder", wie er sie selbst gerne vorstellt.

In unterschiedlichsten Posen und Aktionen, aber immer mit einer krass eindringlichen Präsenz, der man sich nicht entziehen kann und mag, bestimmen sie das Bild. Früher waren sie eher statisch und melancholisch, heute wirken sie lebensfroher und dynamisch bewegter. Gezeigt werden sie meist aus kurzer Entfernung, in beunruhigend distanzloser Nahaufnahme, direkt vor einem leeren mattschwarzen oder ocker-grauen Hintergrund, bei dem die lokale Zuordnung rätselhaft diffus bleibt, die absichtsvolle Inszenierung jedoch deutlich hervortritt. Es sind und bleiben Bilder.

Dies unterstreicht auch das Spiel mit zwei Bildrahmen: neben der realen Leinwandaußenkante gibt es in den ocker-grauen Bildern eine zweite, durch den Malprozess entstandene Rahmung. Der Eindruck eines ausgerahmtes Bildes entsteht, dessen Rahmen die darunter liegende Malschicht scheinbar abgezogen hat.

Durch das Spiel mit Ambivalenzen, durch die Kombination von unterschiedlichen Bildsprachen macht Rott die Leinwand zu einem aufregenden Ort des Geschehens. Porträthaft detailliert ausgearbeitete Gesichter, manchmal im Stil alter nachkolorierter Photographien oder nostalgischer Poesiebilder, stehen neben flüchtig skizzierten Graffitis. Übermalungen stehen neben Fehlstellen, Volumina neben Flächigkeit, Linien neben Farbflächen, Vollendetes neben Unfertigem, Andeutungen neben Ausgeführtem, die sichere Hand des Zeichners neben dem souveränen Pinselstrich des Malers. Dies sind die Ingredienzien für Rotts unnachahmliche und hochinteressante Handschrift.

Sein schöpferisches Changieren zwischen verschiedenen Ausdrucksebenen erzeugt eine enorme Spannung und atmosphärische Rätselhaftigkeit. Alles ist vielgesichtig, vielschichtig und kann sich durch die Wahrnehmung schlagartig verändern. Wie im Leben ... 

".." Zitate des Kunstlers

Heike Welzel-Philipp, Oktober 2016

Eröffnungsrede zur gleichnamigen Ausstellung in der Galerie Köppe Contemporary, Berlin






Lehrstunde 2015
60 x 50 cm
Öl/Bw
Privatsammlung, Hamburg

IM GEBURTSKANAL MIT DEN

NICHTKINDER-KINDERN





Um sich Bodo Rott zu nähern, muss man einen gefühlt 50 Meter langen, schlauchartigen Flur hinter sich lassen. Ich messe ihn ab, da ist er nur mehr 20 Meter lang. Immerhin! Dieser Flur ist der Geburtskanal, um in Bodo Rotts Kinderwelten zu gelangen und während ich ihn durchquere, kommen mir andere Engpässe der Kulturgeschichte in den Sinn. Vor allem denke ich an Skylla und Charybdis in der schmalen Straße von Messina zwischen Kalabrien und Sizilien. Odysseus musste hier durch. Er entschied sich, dem Meerungeheuer Charybdis, das dreimal am Tag einen mörderischen Sog verursachte, auszuweichen, und kam so der Skylla auf der gegenüber liegenden Seite gefährlich nahe, jenem Fabelwesen mit dem Oberkörper einer jungen Frau und einem Unterleib, der aus sechs Hundeköpfen und zwölf Hundefüssen bestand. Einige der Männer von Odysseus überlebten das nicht.

Ich versuche, die Engstellen geschickter zu umgehen, und drücke mich flüchtig an den Wesen vorbei, die diesen Flur bewohnen, etwa an den drei nackten Sirenen, die auf einer Leinwand eng beieinander liegen und den Blick bereits auf mich gerichtet haben. Vorbei an der rothaarigen Amazone, die den Besucher mit wasserblauen Augen frech mustert und ein metallisch rüstungsblau schimmerndes Hemd trägt; vorbei an den beiden jungen Männern, die in schwarzen Anzügen stecken und wirken, als könnten sie sich gleich in Untote verwandeln, flankiert von zwei Voodoopuppen-ähnlichen Gefährtinnen. Vorbei an der mürrisch blickenden Shisha-Raucherin und vorbei an den beiden Jungs, die eine Katze verdrahtet haben, um mit der elektrischen Aufladung ihres Fells einen Fernseher zu betreiben, in dem ein Schneemann auftaucht, der seinerseits staunend das Feuer betrachtet, das die Jungs auf einem Beistelltisch lichterloh brennen lassen.

Der mit Leinwänden vollgestellte Flur des Schreckens ist in seiner Enge eine Hinterlassenschaft des Berliner Wohnungsbaus im 19. Jahrhundert. Auf Karl Friedrich Schinkel gehen diese Grundrisse mit den sogenannten Berliner Zimmern sowie den langen dunklen Korridoren zurück. Ist man dann wohlbehalten in Bodo Rotts Atelierraum angekommen und sagt ihm, manche dieser Bilder, die man unterwegs erblickt habe, seien schon beängstigend, lacht der Maler kurz auf und meint, ja, das könne er verstehen, schließlich sei das Leben auch unheimlich. Er selbst agiere bevorzugt verantwortungslos, wenn er male, fügt er noch hinzu, und erwähnt eine Erfahrung, die er immer wieder mache: Die Betrachter seiner Werke würden sich in zwei Gruppen aufteilen jene, die über das, was er male, lachen könnten, und jene, die es beunruhigen würde. Die einen könnten sich in den Maler und in dessen Lust auf bizarre Bildideen hineinversetzen, die anderen würden sich eher mit den dargestellten Figuren identifizieren und empfänden das, was diese erlebten, als erschreckend.

Das Personal seiner Werke nennt Bodo Rott Nichtkinder-Kinder. Es sind eigenwillige Mischwesen, oft mit kindlichen Körpern, aber mit teilweise schon ziemlich erwachsenen Gesichtern. 2005 haben sie sich durch den Berliner Flur des Malers angeschlichen und waren plötzlich da. Rott malte damals seltsam kopflose Erwachsene, die an Tischen saßen, Kaffee tranken und bei denen über dem Hals nichts mehr war außer Rauch, Nebel, schwarze Löcher oder ulkige Farbblasen. Die Kinder setzten sich unaufgefordert dazu und sind nicht mehr verschwunden. Seitdem gewöhne ich mich an sie, wie man das mit richtigen Kindern eben auch macht, sagt Rott, und fügt hinzu, im Laufe der Zeit seien diese Wesen immer aktiver geworden. Es sind alleinerziehende Kinder, wie der Maler sie nennt, Sprösslinge, die gelernt haben, ihre Zeit autonom zu gestalten. Man sieht sie bei spiritistischen Experimenten und Seance-artigen Zusammenkünften. Wir erleben sie beim Laufen, Singen und Hüpfen. Wir schauen ihnen zu bei hitzigen Schnapp-Spielen (wie sie es früher bei Kindergeburtstagen gab), beim Schwimmen lernen (an der Angel eines Geistes hängend), in der Jungfernschule (vier Jungs umringen schaufensterpuppenartige Mädchenkörper), beim garstigen Warten in einer Zahnarztpraxis oder beim Posieren vor dem Spiegel (mit überraschendem Ganzkörper-Tattoo). Ganz selbstverständlich leben diese Kinder auf Bodo Rotts Bildern, sind einfach da, und je öfter man sie betrachtet, umso mehr werden sie zu Familienmitgliedern, die das eigene Leben begleiten und über die es einiges zu erzählen gibt. So tummeln sie sich auf dumpf schiefergrauen Hintergründen oder spielen Mimikry in ornamental floral gestalteten Zauberreichen oder vergnügen sich auf freskenhaft hellen Gründen mit Leerstellen, als wäre der Putz abgeblättert. Die stumpf gehaltenen, firnisslosen, aber meist sehr farbsatten Gemälde besitzen keine Tiefe und so entsteht ein ganz eigenes Universum aus Träumen und Alpträumen, in dem der Raum nicht perspektivisch erscheint und so ablenken könnte vom großen Körpergefühl der kleinen Gestalten, das sie in stolzen Posen zur Schau tragen. Diese Kinder haben einen faszinierend energischen Ausdruck und scheren sich einen Dreck darum, wie sie auf Bildern aussehen sollten, nämlich lieb und anmutig.

Malen sei eine kindische Sache, sagt Bodo Rott, das lustvolle Erschaffen magischer Welten nicht zu vergleichen mit dem, was Ärzte, Anwälte oder Büroangestellte vollbringen würden. Formal spielt der Maler mit ganz unterschiedlichen Bildsprachen. Er sagt: Ich male am zweitliebsten aus dem Kopf, am drittliebsten nach Skizzen und am viertliebsten nach der Natur. Aber am allerliebsten male ich auf den drei beschriebenen Wegen gleichzeitig.Daneben lässt er sich von alten Fotos inspirieren, oder von Comics oder den Gemälden des Renaissancemalers Benozzo Gozzoli. Mal haben die Nichtkinder-Kinder etwas puttenhaft Barockes, mal besitzt ein Mädchen auf einem wappenartigen Löwen ein Renaissance-Gesicht, und ein anderes Kind fasziniert den Betrachter mit dem Ausdruck einer Femme Fatale wie aus einem Hollywood-Krimi der vierziger Jahre. Mal wird das malerische Element betont, mal das narrative. Mal geht es um Figürlichkeit, mal um den Reiz des Unfertigen. Es gibt keine Sicherheit und keine Gewissheiten in diesen Bildern. Das macht Rotts Malerei so aufregend, aber eben auch irritierend. Rauschhaft verliert sich der Betrachter in den ganz unterschiedlichen Motiven, zappt von einem Bild zum anderen und wieder zurück, bevor er beginnt, Details zu studieren und die Attraktion des Divergierenden zu ergründen. Diese Bilder sind so abenteuerlich wie unreine Reime.

Wenn man am Ende den langen Flur wieder durchschritten hat und die Tür zur realen Welt öffnet, wird man noch auf eine mit Farbkleksen überzogene Leinwand aufmerksam und begreift plötzlich, dass alle Wunder des Lebens aus einer verwirrend amorphen Substanz entstanden sind, in der Schöpfung nicht anders als bei Bodo Rott. Was einmal Matsch und Pampe war, wird bei ihm nun von fantastischen oder manchmal auch fanatischen Wesen bevölkert. Die Nichtkinder-Kinderdas sind wir, geboren aus dem leuchtenden Schlamm, wie der Maler seine farbige Urmaterie mit liebevollem Ton in der Stimme nennt.





 

Moritz Holfelder, April 2015

Jungfrauenmilch 2010

Ouroboros 2010
65 x 50 cm
Lithografie, 2 Farben

Der Titel Jungfrauenmilch fasst sehr treffend die beiden Elemente, die meinen Bildern die Dynamik liefern:

1. das Ensemble der Nichtkinderkinder (Figuren am Rande der Geschlechtlichkeit)

2.das Formlose und Ungetaufte des Materials Farbe (der leuchtende Schlamm), dem die Figuren ausgesetzt sind.


Der Begriff Jungfrauenmilch entstammt der Alchemie, die ich mag, an die ich allerdings nicht glaube. Sie erreichte einen Höhepunkt, als die Malerei, die ich mag, eine erste Blütezeit erlebte und ging etwa zur gleichen Zeit unter, als diese Malerei ihre Gravitationskraft verlor.

Die Alchemie, bekanntermaßen der Suche nach dem Stein der Weisen verschrieben, fußte auf der Annahme, daß hinter den Erscheinungen der Lebenswelt ein Grundstoff liegt, die Prima Materia, die mit verschiedenen Zutaten in alles verwandelt werden könne.

Ich habe festgestellt, dass diese Auffassung eigentlich meiner Auffassung von Malerei entspricht. Der leuchtende Schlamm der Farbe ist meine Prima Materia, der ich den Anschein von allem verleihen kann, auch den ihrer selbst.


In der Alchemie bezeichnet die Jungfrauenmilch das universale Lösemittel, das die Arbeit verrichtet, ohne dass die Hände aktiv werden. Die Alchemisten nennen sie auch „unsren Gummi“.


Auf ihre Weise dreht sich in der Lithografie ebenso alles um den

(Litho-) Stein. Er ist der plane Träger der Zeichnung, die, vom Künstler darauf entworfen, noch lange nicht brauchbar, sondern erst vom Hilfsmittel Gummi (Arabicum) -gemischt mit Säure- druckfähig gemacht wird. Da ich in dieser Ausstellung ausschließlich Lithografien zeige, liegt hier der dritte Grund für meine Titelwahl.


Außerdem gefällt er mir, weil er in heutigen Ohren ein wenig unanständig klingt.


Bodo Rott

 

Berlin 2010

  • Wal

  • Pfau

  • Elefant